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Eine wahre Geschichte - oder: Die Sache nennt sich Leben Eigenwerk
von sister aus der Kategorie Geschichte - Erfahrungen

short stories, lyrics & more
...rund um Leben, Sinn und Sein
Erstellt:    04.10.2007 21:26
Geändert: 06.10.2007 09:52
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Ich trage ein Bild in mir.

Es ist Sommertag. Genauer gesagt ein Spätnachmittag im August. Ich bin etwa vier bis fünf Jahre alt und schaukle unter einem großen, knorrigen Apfelbaum. Es ist eine ganz einfache Schaukel, aus einem Holzbrett mit zwei dicken Hanfseilen. Die Schaukel muß noch recht neu sein, denn das Hanf ist noch hell und liegt rauh und stachelig in meinen Händen.
Ich lache. Ich schaukle und lache mit weit geöffnetem Mund, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt, so dass nur Lichtpunkte und Bildfetzen von sonnendurchflutetem Blattwerk, der Dachrinne und dem Gartentisch durch meine langen Wimpern dringen.
Ein Mann kniet neben mir und versucht mit starkem Griff die Schaukel anuhalten, wodurch ich mich seitlich drehe. Aber meine kleinen Beine stoßen sich immer wieder mit all meiner Kraft vom Boden ab. Ich gebe nicht auf und meine kinnlangen, blonden Locken fliegen mir ums Gesicht. Auch der Mann lacht, tiefer und voller als mein helles Kichern, und nennt mich "Schatz". Er ist mein Vater. Und ich bin die beste Tochter auf der Welt.
Zum herben Apfelduft, der aus dem Baum über mir und dem Fallobst unter mir in meine Nase steigt, gesellt sich Kuchenduft. Marmorkuchenduft. Mein Lieblingskuchen.
Meine Mutter, die sich zuvor um die Gäste am Gartentisch gekümmert hat, trägt ihn gerade aus der Küche, die gleich an den Garten grenzt. Da laß ich meine Schaukel los und springe meinem Vater ungestüm in die Arme. Umklammere seinen Hals und wundere mich zum tausendsten Mal darüber, dass seine Wangen pieksen, während er mich an sich drückt und wie ein kostbares Juwel zum Tisch hinüberträgt, wo die Familie schon auf uns wartet.

Wie gern würde ich sagen, dass dieses Bild eine Erinnerung ist. Aber es ist nur Phantasie.
Märchenduft, Feenstaub, Tagtraumgespinst.
Ja, auch eine Meßlatte, an der ich meine Kindheit maß und als zu kurz befand.

So werde ich nie ein guter Märchenerzähler, ich weiß. Ich kann es einfach nicht lassen, ehrlich zu sein. Darunter leide ich am meisten.
Wenn ich schreibe, sind es immer wahre Geschichten. Darunter steht Roman, aber eigentlich ist ein Sachbuch. Die Sache nennt sich Leben.

Aber wahr... was heißt das schon? Sind Märchen nicht auch wahr? Gerade sie?
Ich kenne beispielsweise ein Schneewittchen. Ihre Haut ist weiß wie Schnee, ihre Lippen rot wie Blut und ihr Haar ist schwarz wie Ebenholz. Sie heißt Bettina, lebt in einem Hochhausapartment und hat eine böse Schwiegermutter. Die hat zwar noch nicht versucht, sie zu vergiften, aber sie hat ihrem Sohn, dem Prinzen, so lange in Herz und Hirn geredet, bis er Schneewittchen verlassen hat und wieder zu ihr gezogen ist. Sieben Zwerge haben Schneewittchen nicht geholfen, auch nicht ihre sieben Liebhaber, die sie seitdem hatte.
In meinem Freundeskreis gibt es auch einige Gold- und Pechmaries, und dass nicht nur zur Winterzeit. Ich kenne sogar jemanden, der haargenau die Hauptrolle in "Tischlein-deck-dich" spielen könnte. Er fährt einen 600er Mercedes und bewohnt eine 400 Quadratmeter-Villa. In seinem Garten wässert ein Quasimodo die Zuchtrosen und seine Kinder leben wie Hänsel und Gretel, nur dass es nicht ihre Körper sind, die vor dem Verhungern stehen.
Märchen, so glaube ich, mögen wir deshalb so gern, weil sie einen wahren Kern haben. Manchmal einen sehr großen Kern mit einer feinen, fast durchsichtigen Schicht aus Phantasie. Die auch wieder wahr sein kann. Vielleicht hört sie sich nur so märchenhaft an, weil sie eigentlich zu einer anderen Geschichte gehört. Oder in eine andere Zeit, zu einer anderen Person. Einem anderen Leben?

Ich hätte jetzt die einmalige Chance zu sagen, dass auch mein Bild wahr ist.
Und ich sage es auch: "Mein Bild ist wahr!"
Aber es gehört mir nicht. Wie so viele Bilder, die ich in mir trage. Deshalb verschenk ich sie in meinen Büchern. Vielleicht gehören sie ja einem meiner Leser. Dann freut er sich gewiß, wenn er sich darin wiederfindet.
Und deshalb lesen wir doch. Und schreiben.
Oder nicht?
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