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Müllers Tag Eigenwerk
von Mongrel aus der Kategorie Geschichte - Menschen

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Kurzgeschichten
Meine Kurzgeschichten...
Erstellt:    11.09.2008 21:18
Geändert: 12.09.2008 17:32
1620 Lesungen, 21.1KB

„Wenn Ihr diese Zeilen lest, werde ich bereits tot sein...“ Mit dieser Zeile beginnt der Brief, der neben Müllers Kopf auf dem Küchentisch liegt. Eine niedergebrannte Kerze und eine halbe Flasche Jack Daniels stehen ebenfalls dort. Nicht mehr lange und vor dem Küchenfenster werden die ersten Sonnenstrahlen den Gehweg vor der Mietswohnung in er Vorstadt erhellen.

Gestern um diese Zeit lag Müller noch neben seiner Frau Anna im Bett. Es war Montag morgen. Müller war schon lange wach und wartete darauf, dass exakt um 6.15 Uhr der Radiowecker seiner Pflicht nachkam. Der Mann vom Radio würde dann wie jeden Morgen einen Witz erzählen. Seine Witze waren meistens schlecht und rangen Müller selten mehr als ein müdes Lächeln ab. Aber was wollte man um 6.15 Uhr schon mehr vom Leben erwarten.

Müller drehte sich auf die Seite und blickte zu der Frau neben sich. Im Dunkeln konnte er sie nur schemenhaft erkennen. Aber nach 16 Jahren Ehe wusste er schließlich auch, wie sie aussah. Mit einem wehleidigen Lächeln dachte er an die ersten beiden Jahre ihrer Ehe. Anna und er waren ein bisschen verrückt gewesen. Sie waren viel gereist. Und um diese Zeit morgens hatte Anna ihn oft mit Küssen geweckt. Meist war es dann nicht nur bei den Küssen geblieben.

Dann war Anna schwanger geworden und neun Monate später wurde ihre Tochter Katrin geboren. War dies anfangs noch aufregend und neu gewesen, kehrte bald Alltag ein. Aber Müller wollte sich nicht beschweren. Er hatte einen sicheren Job in der Verwaltung. Sie hatten zwei Autos (beide fast bezahlt) und ihre Wohnung wies alles auf, was man zum Leben brauchte, inklusiveder 5.1 Dolby-Surround-Anlage, die sie sich letztes Jahr zu Weihnachten gegönnt hatten. Seitdem konnte ihr zweites Kind Benjamin Sponge Bob und Pokomon (oder wie diese verdammten Dinger hießen) in vollem Raumklang genießen. Und die Bundesliga konnte man so natürlich auch hautnah miterleben.

Anna neben ihm regte sich. Sollte er einen Versuch wagen? Langsam beugte er sich zu ihr herüber. Er strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht undbegann, ihr Ohr zärtlich zu küssen. Den einzigen Erfolg, den er damit erzielte,war, dass er mit einer gut gezielten Rückhand wie eine lästige Fliege weggewischt wurde. So hinreichend motiviert, gab er sein Vorhaben auf.

Die Minuten verstrichen und Müller wartete auf den Radiowecker. In Gedanken ging er den Tag im Büro durch. Es schien ihm, als würde er ohne Überraschungen auf ihn warten. Der Chef würde von seinem Wochenende erzählen und Kollege Bergmann würde ihm wie immer auf die Nerven fallen.

Der Radiowecker meldete sich dann schließlich: „...wünsche ich euch Faulenzern einen guten Morgen da draußen! Eine wunderbare Woche beginnt und bald seid ihr mittendrin. – Wusstet ihr übrigens schon den Unterschied zwischen einem parkenden Auto und einer Frau?“

Müller kannte den Unterschied nicht. Er wollte ihn nicht kennen! Seine Faust donnerte auf den Radiowecker – so heftig, dass sowohl dessen Leben, als auch der fade Witz beendet wurden. Anna neben ihm zuckte nur kurz. Ihre Woche würde erst in einer halben Stunde beginnen. Dann bereitete sie die Kinder auf die Schule und den Kindergarten vor. Bis dahin würde sie nichts aus der Ruhe bringen – weder schlechte Witze, noch ihr Mann.

Müller zwang sich aufzustehen. Obwohl er schon seit Stunden wach war, fühlte er nun eine bleierne Schwere in seinen Gliedern. ‚Kaffee’, dachte er. Kaffee würde ihn munter machen. Er wankte in Richtung der Küche und kam dabei an den Zimmern seiner Kinder vorbei. Müde schaute er auf die geschlossenen Türen. So verschlossen kamen ihm in diesem Moment auch seine Kinder vor. Wann hatte er das letzte Mal etwas mit ihnen unternommen, wann das letzte Mal mit ihnen gespielt? Wollten sie das überhaupt mit ihrem alten Herrn? Was machten seine Kinder überhaupt den ganzen Tag nach der Schule und dem Kindergarten? Sein Geist schien so vielen Fragen an diesem Morgen nicht gewachsen. Kopfschüttelnd ging er ohne Antworten an den verschlossenen Türen seiner Kinder vorüber.

Das Licht der Küchenlampe blendete ihn. Aber nicht lange. Dann begann die Lampe zu flackern. Es machte „PITCH!“, und die Glühbirne der Lampe war für immer aus. „Ich hasse Montage!“, fluchte Müller leise vor sich hin. Ohne Licht tastete er in einem Schrank nach dem Kaffee. Wieso stand der immer an einem anderen Platz? Schließlich fand er ihn. Was Müller nicht fand, waren Kaffeefilter.

Er erinnerte sich dunkel daran, dass er am vergangenen Samstag hatte einkaufen wollen. Dann war er aber von seinem Schwiegervater dazu abkommandiert worden, dessen Auto in die Werkstatt zu fahren. Soviel zu denKaffeefiltern! Dafür hasste er jetzt seinen Schwiegervater. Und nicht nur dafür! Es gab vieles, wofür er ihn hasste, wenngleich ihm auf Anhieb nichts Konkretes einfiel. Seine Verwandten konnte man sich schließlich nicht aussuchen! Oder doch?

Eine alte Scheibe Brot mit einer noch älteren Scheibe gekochten Schinken belegt. Dazu ein Glas abgestandene Cola. So sah nun Müllers Frühstück aus. Müller fragte sich, womit Anna seine Kinder versorgte. Er sah sich forschend um, so als stünde er zum ersten Mal in dieser Küche. Müsli, Milch und viele andere gesunde Sachen entdeckte er zu seinem Erstaunen. ‚Nichts für mich!’, dachte er.

Müllers Blick glitt über den Kühlschrank und blieb an einem Stück Papier heften, das dort mit einem violetten Magnetpin in Form einer lachenden Kuh angeheftet war. Mit kindlichem Gemüt hatte sein Sohn etwas auf das Papier gemalt: eine Hügellandschaft unter einem Regenbogen. Auf dem Hügel in der Mittestand ein einsames Strichmännchen. Sein Mund, bestehend aus einem einzigen Strich,war aufwärts geschwungen. Es lächelte. Müller tat dies in diesem Moment auch. ‚Nicht schlecht!’, dachte er. Ihm fiel ein, dass er früher auch gemalt hatte. Irgendwann, er konnte sich nicht erinnern wann, waren seine künstlerischen Bemühungen dem allabendlichen Fernsehen mit Bier gewichen.

Da sein karges Frühstück nicht lange andauerte, wandte sich Müller dem Bad zu. Er sah in den Spiegel. In den letzten Jahren hatte er sich an den Anblick gewöhnt. Aber heute wollte er sich das über die Jahre etwas faltig gewordene Gesicht nicht lange anschauen. Die morgendliche Rasur würde da nicht viel helfen. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem schiefen Grinsen. Er stellte sich vor, wie er seinem Chef und Kollege Bergmann mit Bartstoppeln gegenüber trat. Jeans, T-Shirt und Turnschuhe würden gut dazu passen. Bergmann würde schön dumm gucken! 20 Minuten später verließ er das Haus: adretter Anzug, Schlips, polierte dunkle Schuhe und selbstverständlich rasiert.

Fluchend saß Müller im Auto. Etwas Regen am Montag morgen und schon konnte keiner der Idioten in dieser Stadt mehr Auto fahren. Stau, so weit er schauen konnte. Und alle fuhren sie alleine zur Arbeit. Er würde ja jemanden mitnehmen. Aber keiner seiner Kollegen kam aus seiner Richtung. ‚Schon erstaunlich,’, dachte Müller, ‚wo die Firma einer der größten der Stadt ist.’

Gelangweilt sah er aus dem Seitenfenster in den Regen hinaus. Jemand fuhr auf dem Radweg an der Blechlawine mit einem Mountainbike vorbei. Müller zog eine Augenbraue hoch, als er das Gesicht unter dem roten Regencape des Radfahrers erkannte: es war der Neue aus der Buchhaltung! Anscheinend kam doch jemand aus seiner Richtung. Aber der wollte ja wohl lieber Rad fahren. In Müllers Erinnerungen wurden Bilder wach. Anfangs war er auch manchmal mit dem Rad zur Arbeit gefahren. Aber da war er noch jung gewesen. Hinter ihm hupte ein Auto. Müller schreckte hoch und sah wieder nach vorne. Die Blechlawine hatte sich weiter bewegt – mindestens anderthalb Wagenlängen!

Gehetzt öffnete Müller etwa eine halbe Stunde später die Bürotür. Kollege Bergmann saß bereits vor dem PC.

„Morgen“, murmelte Müller.

Statt einer direkten Antwort schaute Bergmann auf die digitaleFunkarmbanduhr. „Sieben Minuten und 32 Sekunden zu spät!“, schien der Blicküber die randlose Brille, mit dem sein Kollege ihn jetzt bedachte, wortlossagen zu wollen.

„Der Verkehr“, versuchte sich Müller halbherzig zu rechtfertigen.

Bergmanns Blick folgte ihm bis zu seinem Schreibtisch, wo Müller seinen PC anschalten wollte. Im letzten Augenblick bemerkte er, dass er schon angeschaltet war.

„Hab ihn schon mal angeschalten, ihren PC. In der Hoffnung, dass sie noch kommen!“, sagte Bergmann spitz.

„Danke“, rang sich Müller gequält ab. Er hätte kotzen können!

Seinen Montag morgen durfte Müller der Suche nach einer Differenz von 1,32 Euro in zwei Umsatzlisten widmen. Still folgten seine Augen den Zahlenreihen auf dem Papier. Ab und an hielt er inne, um im Computer etwas nachzuschauen. Irgendwann bemerkte er, dass nur noch seine Augen, nicht aber seine Gedanken den Zahlen folgten. Was machte er hier? Ah, er erinnerte sich: er verdiente den Lebensunterhalt für seine Familie! Lebensunterhalt – steckte in diesem Wort nicht auch Leben? Müller kramte in seinem Gedächtnis. Er versuchte sich zu erinnern, wann er das letzte Mal bewusst gelebt hatte. Während er so zurück dachte, drangen Worte an sein Ohr. Und sie brauchten nochlänger, bis sie sein Gehirn erreicht hatten. Viel war es nicht, was er verstand. Aber es war sein Name dabei. Dessen war er sich sicher!

„Wie war ihr Wochenende, Müller?“

Müller erschrak und rang nach Fassung. Der Chef stand groß und breitbeinig mitten im Büro. Müller hatte nicht gehört, dass er in das Büro gekommen war. Die Tür hinter dem Chef stand weit auf. Müller erinnerte der dunkle Flurda hinter an ein schwarzes Loch.

„Gut soweit“, brachte er schließlich stockend hervor.

Ihm war, als schösse Blut in sein Gesicht. Falls es so war, ließen weder der Chef, noch Bergmann es ihn wissen.

„Also, ich sage ihnen, Paris ist fantastisch! Meine Frau wollte natürlich sofort auf der Champs Elysées shoppen gehen.“ Der Chef lachte. „Hat mich ein kleines Vermögen gekostet. Als ob sie den ganzen Krempel nicht auch hier bekäme!“

Müller lächelte höflich. Er sah zu Bergmann. Sein Kollege saß ihm gegenüber. Er lächelte ebenfalls und hatte sich leicht zu seinem Chef geneigt, um dessen Ausführungen über das Wochenende in Paris zu lauschen.

„Im Louvre waren wir natürlich auch!“

‚Natürlich!’, dachte Müller argwöhnisch.

„Muss man ja mal gesehen haben, die Mona Lisa und so.“, führte sein Chef im Plauderton weiter aus.

Müller fiel auf, dass Bergmanns Lächeln in diesem Moment sehr dem der Mona Lisa glich – höflich, distanziert und nichtssagend.

„Sollten sie unbedingt mal mit ihrer Familie hinfahren, Müller!“, ließ sein Chef weiter vernehmen. „Kann ihnen da ein gutes Hotel empfehlen. Erstklassiger Service!“

‚Sicher!’, dachte Müller und nickte mit gespielter Begeisterung seinem Chef zu. ‚Wenn du Arschloch mein Gehalt verdoppelst – kein Problem!’

Noch einmal schielte Müller zu Bergmann hinüber. Da bemerkte er, dass seine eigene Haltung sich nicht im Mindesten von der Haltung Bergmanns unterschied. ‚Wie zwei dressierte Affen!’, ging es Müller durch den Kopf. ‚Wie zwei gottverdammte dressierte Affen!’

Der Morgen verging quälend langsam. Vergeblich versuchte Müller, sich auf die Listen vor ihm zu konzentrieren. Schließlich strahlte Bergmann mit einem verheißungsvollen Lächeln zu ihm herüber: „Mahlzeit!“

Jetzt war es wieder so weit: von nun an bis zum Feierabend würde ihn jeder mit diesem einen Wort begrüßen: „Mahlzeit!“ Müller hasste dieses Wort. Müller hasste Bergmann, wenn er es sagte. Müller wollte in dieses künstlich strahlende Lächeln in Bergmanns Visage schlagen.

Dann sagte er nur: „Mahlzeit.“ Dafür hasste Müller sich selbst!

Bergmann stand auf und wartete. Normalerweise würde Müller jetzt mit ihm zur Kantine gehen. Sie würden sich das etwas zu fette Kantinenessen einverleiben. Ab und an würden sie höflich über einen dummen Scherz ihres Chefs lachen. Die Scherze lagen meist etwas unter der Gürtellinie und waren einem gewissen Radiomoderator gestohlen, der sie auch nicht besser erzählen konnte. Aber heute fühlte Müller, dass ihm alles Essen im Hals stecken bleiben würde.

„Gehen sie ruhig alleine essen“, sagte Müller zu seinem verdutzt dreinblickenden Kollegen.

„Keinen Hunger heute?“, fragte Bergmann ihn.

Müller schüttelte den Kopf. „Muss hier noch die Differenz finden.“

Achselzuckend verließ Bergmann den Raum in Richtung Kantine.

Müller sank in seinem Stuhl zusammen, als er alleine war. Er sah aus dem Fenster. Regentropfen prasselten gegen die Scheibe. Sie liefen zur Fensterbank herunter, die Hauswand hinab in einen Rinnstein. Von dort verschwanden sie für immer in einem Kanaldeckel. Müller wünschte sich plötzlich, er wäre ein Regentropfen.

Etliche „Mahlzeit!“ später saß Müller in seinem Wagen auf dem Parkplatz vor der Firma. Fast alle Autos der übrigen Mitarbeiter waren schon weg. Der Motor seines Wagens blieb stumm und Müller starrte mit hypnotisierendem Blick auf die Armaturen vor sich. Eigentlich hätte er zum Baumarkt fahren sollen, unter anderem, um ein paar Glühbirnen zu kaufen. Aber im Moment schien es ihm, als würde es um ihn nie wieder hell werden. Die Zeit verrann, ohne dass Müller es wahrnahm. Letztendlich war sein Wagen der letzte auf dem Parkplatz. Müller zuckte kurz zusammen, als er von irgendwo her Polizeisirenen vernahm. Wie aus einem traumlosen Schlaf erwacht, drehte er mechanisch den Zündschlüssel um und fuhr los Richtung Baumarkt.

Müller musste über die Nordbrücke der Stadt, um zum Gewerbegebiet zu gelangen. Als er etwa die Mitte der Brücke erreicht hatte, stand er plötzlich vor einem Meer roter Brems- und Rücklichter. Am anderen Ende der Brücke hatte es offensichtlich einen schweren Unfall gegeben. Die Blaulichter diverser Rettungsfahrzeuge blitzten von dort durch die Regenschleier herüber. Müller konnte die genervten Gesichter der anderen Autofahrer erahnen, die vor und hinter ihm standen. Er fragte sich, ob einer von ihnen auch an die entsetzten Gesichter der Unfallopfer dachte.

Müller schaltete den Motor des Wagens aus. Er lehnte sich zurückund drehte seinen Kopf zur Seite. Er sah, wie der Regen das eiserne Gelände rder Brücke hinunter rann. An den meisten Stellen war der Lack des Geländers über die Jahre abgeblättert.

‚Wie bei mir’, dachte Müller.

Die Zeit verrann. Müllers Gedanken schweiften ab in den Regen. Plötzlich löste mit einem seligen Lächeln den Sicherheitsgurt und öffnete langsam die Fahrertür seines Autos. Dann stieg er aus. Die verdutzten Gesichter der anderen Autofahrer in den Fahrzeugen hinter sich bemerkte Müller gar nicht. Er ließ die Wagentür halbherzig ins Schloss zurückfallen und ging mit langsamen Schritten auf das Brückengeländer zu. Der Regen durchnässte Müllers Anzug. Er trat in eine Pfütze und sogleich standen seine teuren Schuhe unter Wasser. Müller bemerkte es nicht einmal. Er fasste mit beiden Händen nach dem Geländer. Es fühlte sich rau, nass und alt an. Langsam zog sich Müller an das Geländer heran und blickte in die Tiefe.

Der Anblick faszinierte ihn. Mit einem Fuß stieß er gegen einen Stein, der darauf hin über den Rand der Brücke rollte und in der Tiefe verschwand. Müller überkam der unbändige Wunsch, wie dieser Stein zu sein. Dann dachte er kurz an Anna und die Kinder. Er erinnerte sich an die großzügige Lebensversicherung, die er einmal abgeschlossen hatte. Würde sie auch in einem solchen Fall ausbezahlt? Er hoffte es für Anna.

Vor seinen Augen aus dem Regen tauchte etwas auf. Es war der Stadtfriedhof, in der Nähe der Stelle, wo sie vor drei Jahren seinen Vater beerdigt hatten. Ein Sarg wurde zu einem offenen Grab getragen. Auf dem hübsch verzierten Grabstein stand sein Name. Viele bekannte Gesichter konnte er um das Grab erkennen. Jemand hielt eine ergreifende Rede über ihn. Alles schien so friedlich. Dann wurde die Rede jäh unterbrochen. Ein rücksichtsloser Rüpel vor dem Friedhof hupte...

Nur langsam fand Müller in die Wirklichkeit zurück. Er löste seinen Blick von der Tiefe unter der Brücke und schaute über seine Schulter zurück. Hinter ihm hatten die Fahrzeuge eine Gasse für einen Krankenwagen gebildet. Nur ein Fahrzeug stand noch mitten auf der Fahrbahn und blockierte den Weg. Der Fahrer des Krankenwagens gestikulierte wild in der Luft und hupte immer wieder wie ein Blöder. Seine Worte verstand Müller zum Glück nicht.

Müller kam spät nach Hause. Anna machte ein besorgtes Gesicht.„Unfall auf der Nordbrücke“, sagte Müller entschuldigend.

„Hab ich gehört“, erwiderte Anna. „Und Frau Sommer von nebenan hat erzählt, dass so ein Esel mitten auf der Brücke ausgestiegen ist und den Rettungswagen blockiert hat.“ Sie lachte und schüttelte den Kopf. „Leute gibt es!“

‚Ja, Leute gibt es’, dachte Müller. ‚Und Esel dazu!’

„Wie war Dein Tag?“, fragte Anna heiter.

„Wie immer“, war die kurze Antwort.

Anna sah in nachdenklich an. „Alles in Ordnung mit dir? – Hast du Hunger?“

Müller sah seine Frau an und zwang sich zu einem Lächeln.

„Alles in Ordnung!“, sagte er schließlich. „Und ich habe keinen Hunger. Danke.“

Er küsste sie und ging, um sich vom Fernseher berieseln zu lassen. Er hatte nicht einmal den Antrieb, die defekte Lampe in der Küche zu reparieren.

Stunden später saß Müller immer noch vor dem Fernseher. Anna hatte es irgendwann aufgegeben, ihn ins Bett lotsen zu wollen. Müller starrte auf die Mattscheibe. Nach geraumer Zeit registrierter er, dass dort nur noch ein Testbild zu sehen war.

Vergeblich versuchte er sich daran zu erinnern, was es vorher zusehen gegeben hatte. Er konnte sich nicht erinnern. Resigniert schaltete er den Fernseher mit einem routinierten Druck auf die Fernbedienung aus.

Sein Blick wanderte durch das Wohnzimmer, vorbei an dem Fernseher mit der Dolby-Surround-Anlage, der etwas angestaubten Stereoanlage daneben, der Anbauwand mit all den Kleinigkeiten, die keiner brauchte, und blieb schließlich auf dem Schränkchen haften, in denen sie den Alkohol aufbewahrten. Früher hatten Anna und er an schönen Tagen die Abende oft bei einem Glas Wein auf dem Balkon ausklingen lassen. Aber dies lag schon lange zurück.

Müller stemmte sich umständlich aus dem Fernsehsessel hoch und ging zu dem Schrank. Neugierig öffnete er ihn. Er entdeckte einigeWeinflaschen, eine angebrochene Flasche Tequila und eine verschlossene Flasche Jack Daniels. Er griff nach dem Whiskey. Dabei fiel sein Blick auf eine alte Kerze, die angestaubt in einer Ecke des Schränkchens stand. Kurzentschlossen nahm er auch sie und ging mit seinen Errungenschaften in die Küche.

Dort stellte er beides auf den Tisch. In einer Schublade fand er Streichhölzer und entzündete die Kerze. Dann nahm er ein passendes Glas aus dem Küchenschrank und schenkte sich großzügig Whiskey ein. Er schaute auf die hellbraune Flüssigkeit im Glas. Dann stürzte er den Whiskey mit hastigen Schlucken herunter. Müller verzog das Gesicht, als der Alkohol seine Kehle hinunter lief, um sich dann warm in seinem leeren Magen auszubreiten. Müller verzog das Gesicht. Als er sich jedoch von seinem ersten Schock erholt hatte, schenkte er nach.

Gerade wollte er sich schon an den Küchentisch setzen, als er neben der Tür die Schultasche seiner Tochter entdeckte. Müller nahm sie auf und kramte darin herum. Bücher und Hefte kamen zum Vorschein. Dann fand er einen Kollegblock mit dem Foto einer Boygroup auf dem Deckblatt. Einer der Jungen war mit einem roten Herz umrahmt. Müller schüttelte lächelnd den Kopf und blätterte durch den Block, bis er eine freie Seite fand. Aus den undurchsichtigen Tiefen der Schultasche fischte er noch einen Stift. Mit beidem setzte er sich an den Küchentisch, wo bereits der Jack Daniels im Kerzenschein auf ihn wartete.

Müller konnte nicht sagen, wie lange er so dagesessen und getrunken hatte. Er betrachtete die halb leere Flasche Whiskey auf dem Tisch und sah dann gebannt in die warme Flamme der Kerze. In Gedanken war er wiederauf der Nordbrücke und blickte in die erlösende Tiefe darunter. Wie benommen wanderte sein Blick durch die Küche. Er sah den Kühlschrank und das Bild seines Sohnes. Dann schaute er wieder auf den Schreibblock vor ihm. Müller nahm den Stift auf und begann mit einem verklärten Lächeln zu schreiben...

„Wenn Ihr diese Zeilen lest, werde ich bereits tot sein...“ Mit dieser Zeile beginnt der Brief, der neben Müllers Kopf auf dem Küchentisch liegt. Eine niedergebrannte Kerze und eine halbe Flasche Jack Daniels stehen ebenfalls dort. Nicht mehr lange und vor dem Küchenfenster werden die ersten Sonnenstrahlen den Gehweg vor der Mietswohnung in er Vorstadt erhellen.

Müller atmet mit tiefen, schweren Zügen. Der Stift ist ihm aus der Hand geglitten. Nach ein paar Zeilen endet der Brief. Müller hat ihn nicht zu Ende geschrieben. Statt dessen hat er das Blatt aus dem Block gerissen und neben sich gelegt. Dann hat er angefangen zu malen – am Anfang noch etwas ungelenk, doch dann immer fließender. Auf dem Block unter seinem Kopf ist ein Mann zu sehen. Er steht auf einem sanften Hügel. Über dem Mann leuchtet ein Regenbogen.

Müller wird später wieder arbeiten gehen, wie an jedem Tag. Er wird etwas verkatert sein, doch bester Laune. Seine Kleidung wird lockerer sein. Er wird keine Krawatte tragen und zum ersten Mal unrasiert erscheinen. Und er wird mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren. Wenn er dann abends nach Hause kommt, wird er seinen Sohn zum Spielen auffordern. Vielleicht werden siezusammen etwas malen.

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Denker            
Sphaere am 12.09.2008 13:56 (Kommentar)    7  
Sphaere
Mal tief in sich gekehrt und Gedanken und Gefühle offen gelegt. Gefällt mir gut.
"Mehr Schein als Sein" kam zum Teil zum Vorschein. Die Kurzgeschichte interessierte bis zum Schluß. Der Gedanke/Mut zur Änderung - so kurz vorm Zusammenbruch, weil`s so nich weiter gehen konnte, wie sich`s eingespielt hatte - stark! Das macht das Leben lebenswert und es kann wieder aufwärts gehn.
Einfach mal wieder Mensch sein!


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